Oberst Jürgen Schlechter ist Leiter des ABC-Abwehrzentrums des Bundesheeres, das sich mit atomaren, biologischen und chemischen Gefahren beschäftigt. Hier beantwortet er aktuelle Fragen zum Thema „taktische Atomwaffen“.

Das sagt der Bundesheer Experte:

Was versteht man unter „taktischen“ Atomwaffen? Wie und wozu werden sie eingesetzt?

Taktische Nuklearwaffen (auch nukleare Gefechtsfeldwaffen genannt) sollen ähnlich wie konventionelle Waffen zur Bekämpfung gegnerischer Streitkräfte eingesetzt werden – wenn sich eben konventionelle Kampfmittel als zu schwach erweisen. Ihr Wirkungskreis und in der Regel auch die Sprengkraft sind zwar deutlich geringer als bei strategischen (interkontinentalen) Waffen – die Bezeichnung „taktisch“ kann aber insofern missverstanden werden, als dass bereits diese Waffen schwerste Zerstörungen anrichten und erhebliche Radioaktivität freisetzen können.

Die kleinste taktische Atomwaffe hat eine Sprengkraft von circa 0,3 kT (1 Kilotonne -kT- entspricht einem Äquivalent von 1.000 Tonnen Sprengstoff Trinitrotoluol -TNT). Die Spanne der Sprengkraft reicht hier aber bis zu ca. 200 kT. Der relativ geringe Wirkradius soll einen Einsatz nahe an den eigenen Positionen erlauben. Ein weiterer Vorteil ist, dass diese Waffe mit LKW schnell transportiert und von der angreifenden Truppe vor Ort abgefeuert werden kann. 

Ein nuklearer Schlag mit Kurz- und Mittelstreckenwaffen ist nicht undenkbar. Die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes durch die Russen steigt mit dem nachhaltigen Widerstand der ukrainischen Streitkräfte.

Wie groß ist der Wirkungsbereich resp. das Schadensausmaß einer taktischen Atombombe?

Das ist abhängig von der Sprengkraft und der Detonationsart. Bei einer Bodendetonation wird radioaktives Erdmaterial bis zu mehreren Kilometern Höhe in die Atmosphäre mitverfrachtet, welches dann – abhängig von den in diesen Höhen vorherrschenden Windverhältnissen – als sogenannter „radioaktiver Niederschlag“ wieder zu Boden fällt und dort eine weitreichende Verstrahlung verursachen kann. 

Als Beispiel für die unmittelbaren Wirkungen kann hier eine 10 kT-Nuklearwaffe (vergleichbar mit der Hiroshima-Bombe, die als „niedrige Luftdetonation“ eingesetzt wurde) herangezogen werden: die zerstörerischen Primärwirkungen wie Druckwelle und Hitzestrahlung würden bei einer Bodendetonation ein Gebiet von etwa ein bis zwei Quadratkilometer betreffen. Mit geringeren Auswirkungen kann man im Umkreis von etwa fünf Kilometern rechnen.

Bei einer Luftdetonation entsteht kaum radioaktiver Niederschlag. Allerdings entsteht bei Luftdetonationen ein „nuklearer Elektromagnetischer Impuls“ (NEMP), der zu weitreichenden Zerstörungen elektronischer Systeme, vergleichbar mit einem Blackout, führen kann.

Könnte Österreich durch den Einsatz taktischer Atombomben in der Ukraine gefährdet sein?

Von den unmittelbaren Primärwirkungen wäre Österreich mit Sicherheit nicht betroffen. Lediglich im Falle des radioaktiven Niederschlages bei Bodendetonationen müsste im Anlassfall die Verbreitung der radioaktiven Partikel aufgrund der Wetterlage beurteilt werden – was die Experten am ABC-Abwehrzentrum in Korneuburg können.

Eine folglich zu beurteilende Auswirkung wäre eine sogenannte Kontaminationsverschleppung durch Personen oder Fahrzeuge aus dem Gebiet, in dem sich der radioaktive Niederschlag ausgebreitet hat: Diese müssten nach einer Überprüfung der Strahlenwerte einer Dekontamination zugeführt werden. Eine Tätigkeit, auf welche die ABC-Abwehrtruppe des Österreichischen Bundesheeres spezialisiert ist (und übrigens auch schon nach dem Kernkraftwerksunfall von Tschernobyl 1986 durchgeführt hat). Ebenso muss mit einer Kontamination (Verstrahlung) von Lebensmitteln und anderen Handelswaren gerechnet werden.


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