Zehn Monate lang hat der Österreicher Alex Sänger (Pseudonym) eine Geiselnahme in Libyen durchleben müssen. Er hat 2013 bis 2016 als Contractor bei einer Sicherheitsfirma gearbeitet, die dort sowohl Diplomaten wie auch Mitarbeiter von Erdölfirmen geschützt hat. Libyen ist seit dem Tod Gadaffis und dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung extrem schwieriges Terrain. SPARTANAT konnte mit Alex exklusiv über seine Erfahrungen als Geisel reden. Heute der erste Teil der Interviews.

SPARTANAT: Alex, lass uns zuerst über die Vorgeschichte reden. Wie bist du nach Libyen gekommen, was hast du dort gemacht?

Sänger: Ich habe dort für eine Firma, die auf Zypern registriert ist, als Personenschützer gearbeitet und nach circa einem Jahr habe ich in das Management, zuerst als Country Security Coordinator und danach als Country Manager, gewechselt. Bei dieser Arbeit war nicht nur der Sicherheitsbereich, sondern waren ebenfalls Finanzen und Logistik mit einbegriffen. Die Klienten waren nicht mehr nur diplomatisch, sondern auch aus dem Ölgeschäft. Insgesamt war ich drei Jahre in Libyen, habe im April 2013 angefangen. Ich war innerhalb dieser drei Jahre zweimal in Gefangenschaft, einmal im Osten als Gefangener der mittlerweile anerkannten Regierung, General Haftar war der Gastgeber. Das war nur ein sehr kurzer Aufenthalt und wurde über den diplomatischen Weg gelöst. Die zweite Geiselnahme war ziemlich genau ein Jahr später, zu einem Zeitpunkt als alle diplomatischen Missionen bereits das Land verlassen hatten. Zwischendurch waren überhaupt nur elf internationale Bürger in ganz Tripoli. Davon waren einer ich und ein anderer ein Kollege von mir.

SPARTANAT: Wie ist es dir bei deiner ersten Geiselnahme ergangen?

Sänger: Die erste Geiselnahme hat sehr ruhig begonnen, ist dann innerhalb von 36 Stunden eher wild geworden, war dann acht Tage lang gar nicht angenehm. Das Gefängnis war dreckig, wir waren in Isolationshaft und haben wenig zu essen gekriegt. Das was wir bekommen haben, hat ausgeschaut als ob es irgendwo verendet und wieder zusammengesammelt worden wäre. Wasser haben wir vom Klo heraus bekommen. Ich habe eine Flasche gefunden, die ich mir immer aufgefüllt habe.

„Folter im Gefängnis war an der Tagesordnung. Man hat das gehört.“

Folter im Gefängnis war an der Tagesordnung. Man hat das gehört. Ich habe jedes Mal, wenn ich aus der Zelle hinaus gekommen bin, frisches Blut gesehen. Uns selbst ist keine physische Gewalt angetan worden, aber immer, wenn sie die Zelle aufgemacht haben, wurden uns die Augen verbunden. Manchmal haben sie uns zu einem Verhör gebracht, manchmal einfach in etwas rausgeführt, was scheinbar ein Innenhof war. Einmal haben sie mich hinknien lassen, dann hat der Mann hinter mir die Kalaschnikow durchgeladen. Letztendlich haben sie mich wieder aufstehen lassen und zurück in die Zelle gebracht. Das Ganze ist eigentlich ohne Worte gegangen.

Einmal hat mich einer der Wärter mit einem Elektroschock-Viehtreiber am Rücken erwischt. Der wurde aber dann gleich von einem anderen Wärter ausgeschimpft. Ich habe zwar nicht verstanden, was sie gesagt haben, aber es war offensichtlich, dass  es nicht gewollt war, dass sie mich erwischen.

Ich war von meinem damaligen Kollegen zeitweise getrennt. Sie haben uns mit Junkies zusammengegeben – zumindest mich, da weiß ich es. Dann war ich mit einem al-Qaida-Kommandaten zusammen, dann mit normalen Verbrechern, die auf ihrem Weg versucht haben mit mir ein Gespräch aufzubauen und mich zu fragen, warum ich da bin. So hat das durchgewechselt.

Nach acht Tagen haben die Entführer uns aus dem Hochsicherheitstrakt hinaus in eine Gemeinschaftszelle mit  drei unserer libyschen Fahrern verlegt. Das war dann noch eine Nacht, bevor sie uns wieder zurück ins Hotel gebracht haben. Da haben sie uns weggesperrt. Im Hotel war es anfangs so, dass ich den Schlüssel hatte und von innen das Zimmer zusperren konnte, bis dann die Wächter gewechselt haben, diese wollten dann den Schlüssel außen haben. Damit war für mich klar, dass die Wächter selbst nicht wussten, ob sie eher auf uns aufpassen sollten, damit wir nicht davon laufen, oder ob die Gefahr von außen, dass jemand kommt und uns holt, nicht viel größer ist. Das Gefängnis war keine 100 Kilometer von Derna entfernt. Derna war damals im Jahr 2014 die erste Daesch-Hochburg in Libyen.

SPARTANAT: Wie bist du da wieder rausgekommen?

Sänger: Wir waren damals dort, um eine Mission einer Untergruppe der EU vorzubereiten. Nachdem unsere Firma gemerkt hat, dass sie zu den regelmäßigen Zeitpunkten, bei denen wir anrufen mussten, keinen Kontakt mehr zu uns hatte, haben sie sofort den diplomatischen Dienst eingeschalten, die sogleich interveniert haben. Ein Firmenangehöriger, der Regional Manager, ist zusammen mit einem Diplomaten nach Al Beida geflogen und hat uns ab- und rausgeholt. Eine Forderung, die General Haftar gestellt hat, war damals, dass die EU ihn bzw. die Regierung im Osten offiziell anerkennt. Das ist ein halbes Jahr später tatsächlich passiert, aber zu dem Zeitpunkt war das einfach nicht verhandelbar.

SPARTANAT: Ihr wart also politisches Spielgeld in dem Fall …

Sänger: Ja.

SPARTANAT: 16 Tage klingt noch überschaubar. Die zweite Geiselnahme war deutlich länger.

Sänger: Das zweite Mal waren zehn Monate. Wie gesagt, waren wir nur mehr ein sehr kleines internationales Grüppchen, das im Lande geblieben war. Nach der Befreiung haben wir erfahren, was der Auslöser für die zweite Entführungen war: nämlich ein ehemaliger Angestellter, den ich nach internationalem Arbeitsrecht begründet gekündigt hatte. Und der wollte sich rächen, mich nur für ein paar Tage ins Gefängnis stecken, mir ein bisschen Angst einjagen. Und dann mich wieder frei lassen.

Passiert ist das so: Ich war an meinem letzten Arbeitstag in Libyen mit einem libyschen Fahrer unterwegs zum Flughafen. Der Fahrer hat offensichtlicherweise mit den Entführern zusammengearbeitet. Bei der Gefangennahme wurde ich brutal aus dem Auto gezogen. Alles ging sehr schnell. Es waren drei Milizionäre, einer davon als Fahrer, die extrem nervös waren. Sie hatten vorher die Kalaschnikows noch durchgeladen und während der Fahrt hatte ich die Mündung im Gesicht, gleichzeitig konnte ich spüren, wie der Entführer zittert, weil er so nervös war. Auch hier, weil ich nicht am Flughafen angekommen bin, hat die Firma sofort geschaut, wo ich verblieben bin, was passiert sein könnte.

„Da war dann nichts mehr mit rauskommen. Das Sache ist einfach innerhalb von ein paar Stunden eskaliert.“

Innerhalb von zwei Stunden haben sie herausgefunden, wo ich bin, aber sie wussten nicht was genau passiert ist. Einer von der Firma ist mit meinem vormaligen libyschen Assistenten hingefahren, um auf den Putz zu hauen und mich rauszuholen. Dadurch, dass er gekommen ist und sofort die Regierung der Muslimbruderschaft eingeschaltet war, hat die Miliz es mit der Angst zu tun bekommen.

Da war dann nichts mehr mit rauskommen. Das Sache ist einfach innerhalb von ein paar Stunden eskaliert. Zuerst haben sie mir nur gesagt, dass ich gefangen bin, weil die Firma ein Problem hat und dass ich schnell wieder frei bin, wenn die Firma das regelt – mit Geld. Dann wurde ich aber der Spionage bezichtigt und habe alle zwei Monate ein neues Verhörprogramm über mich ergehen lassen müssen. Und es war immer eine andere Gruppe: zuerst eine Miliz mit selbsternannten Polizisten, die haben mich als erste verhört. Sie wollten mir einfach Angst einjagen. Dann sind die Verhörmenschen, die gekommen sind, immer eine Stufe höher geworden. Letztendlich war es dann der Geheimdienst selbst. Und das dann im Zwei-Monat-Rhythmus.

SPARTANAT: Zehn Monate sind schon eine sehr lange Zeit. Gibt es in deiner Erinnerung unterschiedliche Phasen deiner Gefangenschaft? Dass man z.B. am Anfang denkt, es ist gleich vorbei, dann Hoffnungslosigkeit etc.

Sänger: Ich habe am Anfang gedacht, das ist alles in vier Stunden geregelt. Nach vier Stunden war nichts. Ok, habe ich mir gedacht, jetzt ist das Wochenende: innerhalb der nächsten vier Tage wird das geregelt sein. Als die auch verstrichen sind, bin ich ins erste Tief gefallen, weil ich realisiert habe, da geht gar nichts schnell.

Der gesamte Aufenthalt war ein permanentes Auf und Nieder. Sagen wir mal so: ich hab Monate gehabt, die schnell vergangen sind und dann wieder Monate, die überhaupt nicht vergehen wollten. Zugleich habe ich aber so Wochen-Hoch- und Tiefs gehabt. Ich hab mir immer gedacht, falls wer kommt und mich holt, dann kann das nur Dienstag Nachmittag, Mittwoch, Donnerstag Vormittag sein. Alle anderen Zeiten passen nicht. Da ist zuerst das arabische Wochenende, dann das europäische Wochenende. Wenn die Entscheidung getroffen wird, habe ich nur drei Tage in der Woche, an denen wer kommen kann.

Wenn es also Donnerstag zu Mittag geworden ist, bin ich in ein komplettes psychisches Tief gefallen. Dann hab ich gewusst, das nächste Wochenende steht an, nichts wird passieren. Sonntag auf Nacht und Montag hab ich dann wieder positiver angefangen zu denken und die Hoffnung einfach nie aufgegeben. Allgemein kann man sagen: gelacht hab ich nicht so viel, aber ab und zu muss man auch lachen. Geweint hab ich mehr, richtig „g’rährt“. Mehr Gefühle konnte ich nicht zeigen, weil die anderen in der Zelle mich permanent beobachtet haben und alles dem Besitzer des Gefängnisses weitererzählt haben.

SPARTANAT: Du warst also die meiste Zeit nicht allein sondern in einem normalen libyschen Gefängnis mit normalen libyschen Gefangenen?

Sänger: Das Gefängnis war ein umgebautes Bürogebäude, bei dem die Fenster zugeschweißt und Stahltüren eingebaut waren. Wir Minimum sechs und maximal elf Leute in der Zelle. Die war 32 Quadratmeter groß. Hamam – also Klo und Dusche – war vorhanden. Wir haben auf Matratzen geschlafen. Die Mitgefangenen waren unterschiedlich: einer ist eingesessen, weil er Menschen nach Europa geschmuggelt hat. Er war allerdings nicht wegen jenem Schmuggel da, sondern weil er keinen Anteil vom Geschäft an die Regierung weitergezahlt hat. Andere sind wegen Bankraub eingesessen, aber auch hier nicht wegen des Überfalls, sondern weil sie vergessen haben, ihren Anteil abzuliefern. Die sind dann ebenfalls wieder freigekommen.

Die offizielle Version war dann immer, dass sie sich geändert haben, dass sie jetzt den Koran gut beherrschen und verstanden haben, so wie die Regierung es gerne hätte. Im Hintergrund sind während deren Haft immer die Verhandlungen mit den Familien oder anderen Angehörigen gelaufen.  Und wenn dann genug Geld in die Polizeikasse gewandert ist, wurden sie freigelassen. Einer war dort, weil er ein Gadaffi-Soldier war, er saß ein, weil er auf der falschen Seite gestanden ist und weil er so viel Mann war, dass er nicht zum Lügen angefangen und Mummar al-Gadaffi verleugnet hat.

SPARTANAT: Wie ist Dir mit diesen Mitgefangenen ergangen? Hat man da einen gemeinsamen Gegner, weil alle im Gefängnis sind? Oder ist die kulturelle Differenz stärker, weil Du ein Westler in einem arabischen Gefängnis bist?

Sänger: Anfangs wollten sie mir weiß machen, dass wir das gleiche Schicksal haben. Vielleicht nicht den aus dem gleichen Grund, aber im Endeffekt wären wir im gleichen Gefängnis und wir sind die besten Freunde und wir teilen alles, was wir haben. Ich bin dann sehr schnell drauf gekommen, dass alles, was ich und auch was alle anderen in der Zelle sagen, mit dem Müll aus der Zelle rauswandert.

Ich sage mit dem Müll, weil derjenige, der „Boss“ der Zelle war, hat zweimal am Tag den Abfall zum Müllplatz gebracht. Und ich habe schnell gemerkt, wenn er zurück kommt, hat er andere Informationen bzw. geht er wieder in eine andere Ecke, freundet sich mit dem an. Der hat einfach Aufträge – vom Scheich oder von der Polizei oder wem auch immer – gekriegt, dass er Informationen beschaffen soll. Der Menschenschmuggler – er war ein Syrer, der mit einer Libyerin verheiratet war – hat wesentlich größere Probleme gehabt, weil die Libyer sehr nationalistisch sind und jeder, der nicht aus Libyen kommt, ist automatisch eine Stufe drunter. Nur bei mir haben sie sich nicht so ganz getraut. Ihn haben sie permanent zu den niedrigen Diensten eigeteilt – Klo putzen, aufwaschen, etc.

SPARTANAT: Das heißt, du wart als Geisel auch ein Wertgegenstand?

Sänger: Ja, und das in mehrerlei Hinsicht. Die einen haben sich einfach im Topf der Firma bedient, also die kleine Miliz. Die darüber gestellte Miliz hat gleich 50 Millionen Euro für mich verlangt, weil sie geglaubt haben, dass ich einen Bericht für 20 Millionen weiterverkauft hätte. Auf der politischen Ebene wurde auch verhandelt, da hat man uns bei EU und UN Verhandlungen als Druckmittel versucht zu verwenden, die sind aber nicht darauf eingestiegen. Für beide waren wir nicht verhandelbar. Unser größter Wert war dann am Ende. Die Geiselnehmer waren darauf aus, dass Europa ein positives Bild von der Regierung hat, dass sie sehr gute und loyale Verhandlungspartner sind, dass sie ihre Gefangenen alle gut behandeln, dass niemandem etwas angetan wird.

SPARTANAT: Du hast also nie physische Folter erleben müssen?

Sänger: Physische Folter habe ich nie erlebt. Also nicht an mir.

„Das psychische Spiel war extrem. Sechs Monate mit diesen Leuten zusammen war ich so am Ende.“

SPARTANAT: Aber natürlich das psychische Spiel … 

Sänger: Das psychische Spiel war extrem. Sechs Monate mit diesen Leuten zusammen war ich so am Ende. Als ich dann mit meinem Kollegen, der auch gefangen gehalten wurde, das erste Mal zusammengelegt worden bin in eine Zelle, habe ich nicht einmal mehr ihm vertraut, ich war schon so paranoid. Jede Frage, die er gestellt hat, war für mich ein Zeichen, dass sie ihn umgedreht haben und dass er jetzt auch Informationen für sie beschaffen muss. Also die Psychospiele haben sie anscheinend schon gut gemacht. Physisch war die einzige Einschränkung, dass wir am Schluss kein regelmäßiges Essen erhalten haben, manchmal gar nicht. Es gab nur kaltes Wasser zum Waschen. Die Zelle war offen, es war Winter, es war uns permanent kalt. Das war die einzige physische Herausforderung.

SPARTANAT: Gewalt durch Mithäftlinge gab es auch nicht?

Sänger: Die Mithäftlinge haben gedacht, dass ich sowas wie ein „Mission Impossible Spion“ sei und wenn sie mich irgendwie angreifen, breche ich ihnen mit meinem linken Zehennagel das Genick. Ich bin eigentlich immer gut ausgekommen mit der libyschen Mentalität, habe gewusst wie ich mit ihnen umgehe, die Erfahrung habe ich gehabt. Ich habe auch nie den Europäer raushängen lassen. Ich habe darauf geachtet, dass ich nichts tue, was ihre Religion oder ihre Rituale einschränkt, habe meine Meinung immer für mich behalten. Es hätte also keinen Grund gegeben, dass …

SPARTANAT: Du bist trotzdem einmal in Einzelhaft gekommen.

Sänger: Nach sechs Monaten haben sie mich zusammen mit meinem serbischen Kollegen in ein anderes Gefängnis verbracht. Nach ungefähr einem Monat hat dann die letzte Verhörphase angefangen. Im Zuge derer haben sie uns wieder getrennt und mich in einen dunklen Raum, extrem dreckig, mit stinkenden Matratzen verlegt. Ich habe nicht einmal gewusst, ob es Tag oder Nacht ist. Ich habe überhaupt keinen Körperkontakt mit niemandem gehabt, das war ganz schlimm. Und niemand zum reden. Und das für einen Monat und zwei Tage.

SPARTANAT: Also ein Monat Finsternis …

Sänger: Es war ein Licht drinnen, zwei Glühbirnen, aber wenn man die eingeschalten hat, haben einem die Augen nach einer halben Stunde weh getan, weil das Licht so extrem war.

„Die einzigen Unterhaltungen, die ich geführt habe, waren mit dem Joker. Die Joker Karte habe ich mir hingestellt, mit der hab ich geredet, Pläne gemacht, gesungen und den Geburtstag von meinem Sohn gefeiert.“

SPARTANAT: Hattest Du etwas zu tun in der Zeit? Oder nur Selbstgespräche?

Sänger: Spielkarten habe ich gehabt. Einer den Wärtern hat mir Remi-Karten gegeben. Die einzigen Unterhaltungen, die ich geführt habe, waren mit dem Joker. Die Joker Karte habe ich mir hingestellt, mit der hab ich geredet, Pläne gemacht, gesungen und den Geburtstag von meinem Sohn gefeiert. In der Zeit bin ich manchmal zwei Tage nicht aufs Klo gekommen. Ich hatte zwar eine Flasche, in die ich reinpinkeln konnte, aber für alle größeren Geschäfte musste ich anklopfen, warten bis wer kommt, dann fragen, dass sie mich aufs Klo bringen. Die Wärter haben dann gesagt: Wart kurz, wart kurz. Teilweise hat das 48 Stunden gedauert bis ich auf Klo gekommen bin. Da war dann die Unterhose auch schon braun, weil man das nicht so lange zurückhalten kann …

SPARTANAT: Wir war die Zeit danach? Macht einen das verletzlicher, dass man einen Monat Einzelhaft hinter sich hat? Oder bunkert der Insasse sich ein und baut mehr Schutzfläche auf? Oder ist die Frage einfach ganz falsch?

Sänger: Ich weiß nicht genau, was du meinst. Bei mir ist es so, ich kann seitdem nicht mehr schlafen, wenn es ganz ruhig ist. Weil es einfach extrem ruhig in der Einzelzelle war. Mein Kollege – seine Zelle war neben dem Funkraum und er hat 24 Stunden 7 Tage in der Woche dieses Funksprüche gehört –, der kann seitdem nicht schlafen, wenn viele Leute reden.

Als sie uns zusammengeführt haben, sind wir uns in die Arme gefallen, wir haben natürlich beide zu weinen angefangen. Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, weinst halt einmal. Er ist aber extrem paranoid gewesen, so stark, dass es mir zu viel geworden ist. Ich habe zu ihm gesagt: „Sag mir deine Probleme nur jedes zweite Mal, weil ich pack das selber nicht mehr. Ich kann mir das nicht anhören, was du glaubst zu hören oder was als nächstes ist.“

Wir haben eigentlich immer gehofft, dass wir beide zu Weihnachten zu Hause sind. Weder weil ich noch er so religiös wären, sondern weil wir gewusst haben, dass es für unsere Familien so extrem wichtig ist. Ich bin Christ, er ist serbisch Orthodox, d.h. wir haben zuerst gewartet: Weihnachten ist 24. Dezember, da sind wir sicher daheim. Dem war dann nicht so … Ok, dann das orthodoxe Weihnachten, also 7. Jänner. Ist sich auch nicht ausgegangen. Dafür ist sich das orthodoxe Neujahr ausgegangen …

Ein Einschnitt, der vielleicht interessant ist, war, dass wir vom einen Tag auf den anderen nichts zu esssen gekriegt haben. Das Essen war von regelmäßig drei Malzeiten inklusive Obst vom einen Tag auf den andere komplett eingestellt. Wir haben dann ein kleines Häufchen Nudeln gekriegt. Und das nicht jeden Tag und kalt waren sie und fest. Der Grund dafür, glauben wir, war, dass eine andere Miliz das Gefängnis angegriffen hat verlangt hat, dass sie uns rausgeben. Die Frage, die für uns immer offen geblieben ist, wäre: waren das die Guten, die uns rausholen wollten, oder wollte einfach die nächste Miliz mit uns ein Geschäft machen. Im Hintergrund sind viele Sachen gelaufen …

SPARTANAT: Der Hintergrund eurer Entführung ist für dich noch immer schwer nachvollziehbar … 

Sänger: Ich habe es versucht, mit den involvierten Stellen (ungarischer Botschafter in Libyen, unsere Dienste). Wir wollten wissen wo sie etwas gemacht haben, was wir drinnen gemerkt haben. Es hat uns nie wer gesagt, was los ist. Selbst als wir in das andere Gefängnis verlegt wurden: Ich habe gedacht, sie verlegen uns weiter. Mein Kollege dagegen war sich hundertprozentig sicher, dass das jetzt unsere Exekution ist. Ich war immer positiver eingestellt, habe mir gesagt: umbringen tun sie mich sicher nicht, weil dafür bin ich einfach zu viel wert – und nach einer gewissen Zeit auch immer mehr wert geworden. Aber der andere war sich ganz sicher, dass er zur Hinrichtung geführt wird. Was dann die Überraschung war, dass sie uns die Augenbinden abgenommen haben und wir sind uns gegenüber gestanden.

HIER geht es zum zweiten Teil des Interviews „Lessons learned“. 

ALEX SÄNGER, Jahrgang 1980, stammt aus der Steiermark, war Soldat des österreichischen Bundesheeres, zuletzt beim Jagdkommando. Ab 2013 hat er für die ARGUS Group in Libyen als Personenschützer gearbeitet. Von seiner zehnmonatigen Geiselnahme kehrte er im Januar 2016 nach Hause zurück.

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