Am 18. März schuf die Regierung die Grundlage für die Mobilmachung der Miliz. Am 18. Mai sind die Soldaten erstmals ausgerückt. In der Schweiz standen die Bürger-Soldaten drei Tage nach dem Alarm im Corona-Einsatz. Gehört das so? ADDENDUM suchten nach Erklärungen.

K. trägt seit vielen Jahren zwei unterschiedliche Arten von Uniformen. Die eine besteht aus zweiteiligem Anzug, Hemd, Krawatte und eleganten Schuhen. „Als Geschäftsführer braucht man das, manchmal zumindest.“ In seiner knappen Freizeit hingegen trägt er schwere Stiefel, den Feldanzug 75 in Farbton RAL 7013 und – bei Bedarf – ein Sturmgewehr.

K. ist Vizeleutnant und Soldat des Milizstands. Loyal gegenüber dem Bundesheer. Und als Staatsbürger und Steuerzahler dennoch verwundert darüber, wie die erste Teilmobilmachung der österreichischen Armee im Zuge der Corona-Krise verläuft. Wie andere Soldaten, mit denen wir für diese Recherche sprachen, kann er nicht offen sprechen. Der Apparat schätzt es nicht, wenn er öffentlich ausgerichtet bekommt, wie es sonst noch ginge. Wie? „Schneller, koordinierter, ohne Eitelkeiten zwischen Berufs- und Milizstand. Und ohne übertriebene Selbstdarstellung der politischen Führung.“

Aber ist das überhaupt so? Wo hat K. recht, und wo täte man dem Bundesheer, das derzeit zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Krise leistet, mit Kritik unrecht?

Tatsache ist: Am 18. März, kurz nach dem Coronavirus-bedingten „Shutdown“ der Republik, legte die Regierung im Ministerrat den Grundstein für die (Teil-)Mobilisierung der Miliz des Bundesheers. Am 4. Mai rücken die Soldaten ein, durchlaufen – obwohl Teile der Miliz regelmäßig üben – eine zweiwöchige Ausbildung und werden schließlich am 18. Mai tatsächlich in den Einsatz gehen. Konkret: Unterstützung der Polizei (Objektschutz, Streifendienst, Grenzschutz) und Unterstützung anderer Behörden im Rahmen der Katastrophenhilfe (Fiebermessen von Pendlern an den Grenzen, Logistik etc.). Das öffentliche und wirtschaftliche Leben soll zu diesem Zeitpunkt wieder langsam in Gang gekommen sein, der Höhepunkt der Virusverbreitung ist bereits jetzt lange überschritten (Wo sich das Coronavirus in Österreich verbreitet ).

Zum Vergleich: Die 2.000 freiwilligen Zivildiener wurden gleich zu Beginn der Krise innerhalb von zwei Wochen an – mehr oder weniger – relevante Positionen verteilt (Zivildienst verlängert: War das nötig? ). Die Miliz der Armee der Schweiz brauchte von der Alarmierung (16. März) bis zum Einrücken inklusive Einsatzbereitschaft (19. März) drei Tage. Was sagt das aus?

Armee der Schweiz: Ähnlich, und auch nicht

Vergleiche mit der Schweiz sind im Backsteinbau des Verteidigungsministeriums am Wiener Donaukanal ein heikles Thema. Geht es um die eigene Ausstattung mit finanziellen Ressourcen, verweist man hierzulande als erstrebenswertes Vorbild gern auf die Kameraden im Nachbarland. Weniger gern sieht man in der Rossauer Kaserne Vergleiche militärischer und organisatorischer Natur. Die Schweiz, heißt es dann, fahre ein anderes System.

Soldat der Schweizer Armee im Corona-Einsatz. 35.000 Zivilisten finden sich permanent in erhöhter Bereitschaft und können binnen weniger Tage via SMS, Telefon und Handy-App aufgeboten werden.

Stimmt. Und auch wieder nicht. Beide Länder haben nämlich in durchaus vergleichbarem Wortlaut in der Verfassung stehen, dass die Armee grundsätzlich nach dem Miliz-Prinzip zu gestalten ist. Politische und militärische Führung leben das nur anders. Während Bern voll hinter dieser Idee steht, sich gerade einmal knapp 3.000 hauptberufliche, dafür aber 140.000 Miliz-Soldaten leistet, hat sich das Bundesheer entgegen seines Auftrags in Richtung beamtete Berufsarmee entwickelt: 15.000 hauptberufliche Soldaten und 7.000 weitere zivile Angestellte stehen 31.000 Milizmitgliedern gegenüber, die zu großen Teilen nie geübt haben, und für die es viel zu wenig Ausrüstung gibt.

„Es ist ein Skandal, dass wir als Einsatzorganisation zwei Monate brauchen.“

Martin Stift, Milizsoldat und Interessenvertreter

Einer der wenigen, die sich auch offen kritisch über die Mobilisierung der Miliz äußern, ist Martin Stift. Zivil bis zuletzt in leitender Funktion im Aviation-Bereich tätig, ist er militärisch seit vielen Jahren Mitglied des Jägerbataillons Wien 1, im Bundesheer bis in die Führungsebene gut vernetzt, und: Präsident des Interessenverbands Miliz. Angesichts der laufenden Vorbereitungen sagt er: „Für mich ist es ein Skandal, dass wir als Einsatzorganisation zwei Monate brauchen, um zu mobilisieren. Das steht unserem langjährigen und vielfach geübten Selbstverständnis einer raschen Reaktion diametral gegenüber.“

Stift ist überzeugt davon, dass die Miliz, die sich sonst weitestgehend selbst organisiert und deren Angehörige untereinander bestens vernetzt sind, derzeit einmal mehr durch die Bürokratie des Ministeriums gebremst wird. „Binnen weniger Stunden hatten wir auf den internen Kommunikationskanälen nur meines Bataillons ausreichend Freiwillige für eine ganze Kompanie.“

Hohe Befreiungsquote

Stattdessen beruft das Ministerium aus der Zentrale nun Soldaten ein, die zu großen Teilen offenbar gar keine Lust haben. So wurde am Mittwoch bekannt, dass das Bundesheer derzeit mit einer Vielzahl von Befreiungsanträgen konfrontiert ist, die anscheinend recht großzügig bewilligt werden. 20 Prozent, das ist jeder fünfte Alarmierte, dürften zu Hause bleiben. Das sei üblich, so Verteidigungsministerin Klaudia Tanner .

Am 22. März traten die Ministerin, Generalstabschef Robert Brieger und Milizbeauftragter Erwin Hameseder im Rahmen einer gemeinsamen Pressekoferenz auf. 3.000 Bürgersoldaten, hieß es damals, sollten aufgeboten werden. Inzwischen ist von nur noch 2.300 die Rede. Warum?

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Einerseits hat die Reduktion damit zu tun, dass sich die Lage im Lauf der langen Vorlaufzeit verändert hat. Es könnten sogar noch etwas weniger werden, weil die Ergebnisse der Einstellungsuntersuchungen ausstehen. Das Verteidigungsministerium teilte uns jedenfalls mit, dass „die Einsatzstärken der Kompanien für die bevorstehenden Aufgaben jedenfalls ausreichen“ werden. Davon scheint auch die zu unterstützende Polizei überzeugt: In Gesprächen mit Mitarbeitern von zwei Landespolizeidirektionen bekamen wir die informelle Auskunft, dass man derzeit eigentlich noch gar nicht so genau wüsste, wie man die Unterstützung aus dem Militär genau einsetzen solle.

Andererseits – siehe oben – ist das Armeekommando mit vielen Absagen konfrontiert, die – anscheinend – nicht zu ersetzen sind. Ein Umstand, vor dem Mitglieder der Miliz bereits Mitte März im Ministerium gewarnt haben. Die Überlegung damals war: Unter den ersten Eindrücken der Krise sei die Bereitschaft zum Einsatz groß, die Schwierigkeiten für Arbeitgeber seien überschaubar. Später, wenn die Wirtschaft langsam wieder hochzufahren versuche, werde es ungleich schwerer werden, Milizangehörige, die eigentlich einen Beruf haben, aus der Firma in den Einsatz zu bekommen. In einen Einsatz, dessen „heiße Phase“ dann zudem längst vorbei sein wird.

Falscher Zeitpunkt?

„Genau dieses Szenario scheint jetzt jedoch einzutreten“, glaubt Miliz-Interessenvertreter Martin Stift. Er ist der Meinung, dass der sofortige Einsatz seiner Kameraden Mitte März ein Gewinn für alle, für Unternehmen, von Kurzarbeit und Kündigung bedrohte Arbeitnehmer, Gesellschaft und das Bundesheer gewesen wäre. „Und die, die nach dem Einsatz abgelöst werden müssten, hätten anschließend durch ohnehin verfügbare Berufssoldaten ersetzt werden können.“ Hätten. Es kam anders.

Den fast zweimonatigen Vorlauf kann man zwar kritisch beurteilen, man kann aber auch sagen, dass er aus Überlegungen der Einsatzvorbereitung von Anfang an und mit guten Gründen so geplant war. Das Verteidigungsministerium sagte schon damals (und tut das auch heute), dass die mobilisierten Kompanien der Miliz bereits im Einsatz stehende Einheiten ablösen sollen. „Das Ziel des Bundesheeres ist die nachhaltige Sicherstellung des Einsatzes durch vorausschauende Planung“, so die Strategie laut Ministeriumsspitze.

Im Detail:

„Zuerst wurden kaderstarke Kräfte eingesetzt, die durch Kompanien mit Aufschubpräsenzdienern abgelöst wurden. In der zweiten Phase kommt nun die Miliz zum Einsatz. Damit können die Einsatzpräsenzdiener wieder aus dem Einsatz herausgelöst werden. Gleichzeitig werden neue Grundwehrdiener ausgebildet, damit wieder ausreichende Kräfte für die Ablöse der Miliz Mitte des Jahres zur Verfügung stehen.“

Soldaten im Corona-Einsatz: Unterstützung in der Logistik von Lebensmittelketten.

Daran glauben aber nicht alle.

Innerhalb der Truppe und abseits der Pressekonferenzen und offiziellen Social-Media-Kanälen scheint es zu gären. Im Lauf der vergangenen Wochen hatten wir Kontakt mit zahlreichen Soldaten aus den unterschiedlichsten Bereichen. Alle berichteten davon, dass es in ihrer gegenwärtigen Situation ein gutes Gefühl sei, gebraucht zu werden und deshalb im Einsatz zu stehen. Und ebenfalls alle beschrieben, dass es noch besser gehe. Im Folgenden finden Sie einen kleinen Auszug ihrer Berichte.

Berufssoldat D. erzählt von einem Einsatz der Kameraden bei der Corona-Hotline der AGES. Für mehrere Dutzend Soldaten war es im beschriebenen Fall nicht möglich, ausreichend Fahrzeuge für den Transport zu bekommen. Der Einsatz begann also mit einer U-Bahn-Fahrt. Nicht, dass das unter der Würde eines Soldaten sei, aber: „Hätte sich nur einer von ihnen dort mit dem Coronavirus angesteckt, wäre kein Telefondienst mehr möglich gewesen.“ Weiters hat der Mann den Verdacht, dass der aktuelle Einsatz für das Heer nicht so fordernd wäre, wie es Generalität und politische Führung nach außen darstellen. „Es ist unerklärlich, dass knapp 15.000 Berufssoldaten und 8.000 eingerückte Grundwehrdiener es nicht schaffen, die Aufträge zu bewältigen .“

Ein weiterer Berufssoldat, ein Kommandant eines an der Grenze eingesetzten Zuges, bezeichnet die Äußerung der Verteidigungsministerin („Unser Heer ist in Krisen einsatzfähig“) als „Lüge ins Gesicht der Bevölkerung“. Eine Einschätzung, die er auch schriftlich mit Kameraden teilte. Was er bemängelt? Ihm und seinen Soldaten fehlte es im Einsatz (Unterstützung der Polizei) an den einfachen, aber grundlegenden Dingen: Fahrzeuge, Stichschutz, Sicherheitsholster für die Pistolen, Handschellen, Taschenlampen für Fahrzeugkontrollen bei Nacht und: Schutzkleidung und Desinfektionsmittel. Die Heeresspitze sieht das zumindest für die neu Einrückenden anders: „Die erforderliche Ausrüstung und Ausstattung für den Einsatz der Miliz ist sichergestellt.“

Ein Soldat des Milizstandes berichtet davon, dass er bis zur Zustellung seiner Einberufung gar nicht wusste, dass er dazugehört. „Oder zumindest hatte ich es verdrängt“, berichtet er uns. P. gehört zu den sogenannten „befristet Beorderten“. Das sind Grundwehrdiener, die im Lauf der vergangenen fünf Jahre abgerüstet sind und dabei einen „Bereitstellungsschein“ erhielten. Das betrifft eben nicht alle. Anders als jene, die sich freiwillig für regelmäßige Fortbildungen verpflichten, wurden befristet beorderte Milizangehörige bisher als „Karteisoldaten“ bezeichnet. Nachdem nämlich die Übungspflicht für Grundwehrdiener nach der Jahrtausendwende fiel, musste das Ministerium die Vorgabe, im Ernstfall bis zu 55.000 Mann mobil machen zu können, irgendwie erreichen. Befristet Beorderte stellen – auf dem Papier – inzwischen fast die Hälfte des Miliz-Personals. Und haben seit Ende des Grundwehrdienstes nie geübt (siehe Grafik).

Doch da ist noch mehr, was die Vorbereitungen stört. Es geht ums Geld. Und um die nicht optimal laufende Kommunikation der Führung mit den eigenen Soldaten. Eine Auseinandersetzung, in der auch die freiheitliche Bundesheergewerkschaft mitmischt und – ganz im Sinne militärischer Taktik – ihre eigenen Ziele identifiziert und angegriffen hat. Im Visier: Die ÖVP-Ressortchefin und deren Parteifreunde in der Regierung.

Bereits Anfang April rechnete die Gewerkschaft vor, dass es schwierig werden könnte, Soldaten im Einsatz zu erklären, warum es für die gleiche Arbeit zum Teil höchst unterschiedliche Bezahlung gebe. Ein Wachtmeister, der sich zur einer sogenannten „freiwilligen Waffenübung“ (fWÜ) meldete, soll demnach für drei Monate 9.508 Euro verdienen. Ein mobilgemachter Wachtmeister mit Einsatzbefehl 5.207 Euro (zuzüglich Verdienstentgang, wenn er ein ziviles Einkommen hat).

Schweiz schickt Soldaten wieder nach Hause

Laut Auskunft aus dem Streitkräftekommando sei es nun möglich, dass im Zuge des Corona-Einsatzes der Miliz wegen der Auffüllung von Fehlstellen in einer Einheit durch unterschiedlichste Personengruppen Soldaten dienen, die nach bis zu vier unterschiedlichen Besoldungsschemata bezahlt werden. Die Informationen dazu änderten sich zuletzt auf der Website des Bundesheers (fast) täglich.

Ein Durcheinander, das die Kameraden in der Schweiz nicht kennen. „Bei uns weiß vom Helfer bis zum Bankdirektor jeder vorher genau, was er verdient: 80 Prozent vom zivilen Gehalt“, sagt Daniel Reist. Er ist Sprecher der Armee und hatte in den vergangenen Wochen wegen des Corona-Einsatzes einiges zu tun. Während die Miliz des Bundesheers noch nicht einmal in die Kasernen bestellt wurde, schickt die Schweiz ihre Soldaten inzwischen wieder nach Hause.

Knapp 400 der aufgebotenen 4.000 sind bereits ins Zivilleben entlassen. Weitere 1.800 sollen bis Mitte Mai folgen. Die in Österreich als „üblich“ geltenden Befreiungsquoten von 20 Prozent  sind in der Schweiz kein Thema: „Drei Tage nach der Alarmierung waren 91 Prozent der Einberufenen in den Kasernen“, berichtet Reist.

Diese Einheiten wurden mobilisiert Die Miliz des Bundesheeres besteht stark vereinfacht gesagt aus den Jägerbataillonen der Bundesländer, unabhängigen Kompanien und Pioniereinheiten. Ganze Bataillone wollte das Ministerium nicht mobil machen. Angeblich deshalb, um die den Organisationen zugewiesenen Ärzte nicht dem zivilen Leben zu entziehen. Tatsächlich ist laut den Organisationsplänen jedoch nur ein Arzt pro Bataillon eingeteilt. Viele Ärzte hätte das nicht betroffen. Jedenfalls: Das Ministerium entschied sich dazu, einzelne Kompanien gewissermaßen handverlesen einzuberufen. Auf ganz Österreich verteilt sind es 13.

ADDENDUM Artikelserie zum Thema Terroismus auf SPARTANAT: 

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