Vor einem Jahr, am 24. Februar 2022, hat der Krieg in der Ukraine begonnen. Oberst Markus Reisner stellt dar, was bisher geschah, erklärt die wichtigsten Dynamiken und gibt einen Ausblick, wie es in dem Konflikt weitergehen könnte.

1: Wie lange wird der Krieg noch dauern?

Nach der erfolgreichen ukrainischen Bewegungskriegsführung (Offensiven bei Charkiv und Cherson) im Herbst letzten Jahres, gelang es der russischen Seite, sich im Winter entlang einer verkürzten Frontlinie zu konsolidieren und der Ukraine wieder (analog zum Sommer 2022) einen Abnützungs- und Stellungskrieg aufzuzwingen. Dieser Stellungskrieg wird in den nächsten Monaten vor allem von den auf beiden Seiten verfügbaren Ressourcen (v.a. Soldaten, Waffen, Munition) bestimmt werden.

Gelingt es der ukrainischen Seite nicht, wieder in die Offensive zu gehen und Gelände in Besitz zu nehmen, ist sie weiter einer steten Abnützung unterworfen. Diese erfolgt auf dem Gefechtsfeld durch die laufenden taktischen russischen Angriffe entlang der gesamten Frontlinie und in der Tiefe des Landes durch die strategischen russischen Luftangriffe – am 18. Februar erfolgte hier die 14. Angriffswelle – auf die kritische Infrastruktur.

Die Erfolge der Ukraine bei Kiew, Charkiv und Cherson im Jahr 2022 waren spektakuläre Punktesiege bzw. vermutlich bei Cherson das Ergebnis von Absprachen. Möchte die Ukraine gewinnen, bräuchte sie aber einen entscheidenden Sieg über die russischen Kräfte auf dem Territorium der Ukraine. Bis jetzt ist es den ukrainischen Streitkräften im Donbass gelungen, trotz des Durchbruchs bei Popasna im Mai 2022, die russischen Truppen in der zweiten Verteidigungslinie nördlich und südlich von Bakhmut aufzuhalten.

Ein anhaltender Abnützungseffekt, nachlassende Waffen- und Munitionslieferungen bzw. das Ausbleiben eines entscheidenden, durchschlagenden Erfolges für die Ukraine können dazu führen, dass die Ukraine bis Mitte/Ende des Jahres gezwungen ist, einen Waffenstillstand einzugehen – analog zum anfänglichen Bewegungs- und späteren Stellungskrieg und dem daraus resultierenden Waffenstillstandsabkommen in Korea im Juli 1953. Diese Entwicklung versuchen die Ukraine und der verbündete Westen unter allen Umständen zu verhindern.

2: Wie steht die Ukraine militärisch da?

Seit Beginn des Krieges wird die Ukraine massive durch die Übermittlung von „in time“-Aufklärungsdaten, Starlink-Kommunikation und durch permanente umfangreiche Waffenlieferungen durch die USA und NATO-Staaten unterstützt. Dies sowie die eigene, über Jahre sehr überlegt vorbereitetet Abwehrtaktik, waren entscheidend, um die russischen Streitkräfte abwehren und sogar regional immer wieder großräumig zurückdrängen zu können.

Die entscheidende Unterstützung für die Ukraine kommt hier vorrangig von den USA. Sie lieferten vor allem eine begrenzte Anzahl an GPS-gestützten HIMARS-Raketenwerfern mit einer Reichweite von 70 km und stellten kürzlich in Ramstein die Zusendung von weiteren GLSDB-Raketen mit bis zu 160 km Reichweite in Aussicht. Dies entspricht aber nicht der Lieferung der von der Ukraine geforderten ATACMS-Systeme mit einer Reichweite von 300 km.

Das offensichtliche Vorgehen der USA ist es, die Gratwanderung zu beschreiten, einerseits die Ukraine möglichst zu unterstützen, aber andererseits Russland nicht in die Enge zu treiben. So sollen „irrationale Handlungen“, sprich ein Atomwaffeneinsatz, verhindert werden. Ein rasches Kriegsende ist somit nicht möglich und die Ukraine hat das Problem, im andauernden Krieg immer wieder neue Verbände aufstellen und Soldaten rekrutieren zu müssen.

Die Ukraine konnte bis jetzt von ca. 240.000 auf ca. 500.000 Soldaten aufstocken – trotz zunehmender Herausforderungen in der Mobilisierung. Es fehlt jedoch an schweren und weitreichenden Waffen, Fliegerabwehr und Artilleriemunition. Hier sollen die laufenden westlichen Zulieferungen Abhilfe schaffen. Die Ukraine übt zu diesem Zweck steten Druck auf den Westen aus, um sicherzustellen, dass die Waffenlieferungen nicht enden bzw. sogar ausgeweitet werden (Forderungen nach Kampfpanzern, bewaffneten Drohnen, weitreichenden Boden-Boden-Raketen, Kampfflugzeugen und U-Booten).

Bis jetzt konnten die Ukrainer die Front erfolgreich halten. Den Russen gelangen nur begrenzte Erfolge bzw. konnten neuerliche größere Angriffe von den Ukrainern (z.B. bei Ugledar) vor allem durch den Einsatz von Minen (vor allem fernverlegbare RAAM/SCATMIN), Panzerabwehrlenkwaffen und Artillerie erfolgreich abgewehrt werden. An anderen Stellen wie z.B. bei Bakhmut droht jedoch eine Einkesselung und Niederlage ukrainischer Truppen. Die Situation ist ernst. General Kyrylo Budanow, der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes der Ukraine, stellte dazu kürzlich fest: „Es stehen uns ab Frühjahr heftige und entscheidende Kämpfe bevor. Sie könnten den Krieg entscheiden. Es steht 1:1 und wir befinden uns in der 70. Spielminute.“

3: Und wie steht Russland militärisch da?

Durch den ohne große Verluste gelungenen Abzug aus Cherson und durch das laufende Heranführen von Reserven (als Ergebnis der anhaltenden Mobilisierungen), ist es den russischen Streitkräften gelungen, eine durchgehende stabile Frontlinie aufzubauen. Das Halten dieser Linie wird einerseits im Südosten durch den Fluss Dnepr begünstigt bzw. andererseits durch laufende getroffene Verstärkungsmaßnahmen (Bau von Panzergräben, Anlegen von Minenfeldern, Errichten von Sperren usw.) im Nordosten nachhaltig verbessert.

Es gelang bis jetzt, eine durch die Ukraine geplante dritte Offensive in Richtung Melitopol durch massive Angriffe mit russischen „Wagner“-Söldnern und Fallschirmjägern im Raum Bakhmut zu verhindern. Durch den hier entstehenden starken russischen Druck auf die zweite Verteidigungslinie ist die Ukraine immer wieder gezwungen, frische Reserven heranzuführen. Kräfte, die jedoch gebraucht werden würden, um sich für eine neue Offensive bereitzustellen.

Die Sanktionspakete des Westens zeigen kurzfristig in Russland noch immer nicht den gewünschten Erfolg. Es gelang der russischen Rüstungsindustrie, die Eigenproduktion stetig zu erhöhen und vor allem, den Ausstoß an Panzern, endphasengesteuerter Artilleriemunition und Drohnen quantitativ zu erweitern. Hinzu kommt die Reparatur vorhandenen Geräts aus bestehenden, ehemaligen sowjetischen Beständen und verdeckte Lieferungen aus dem Ausland (Iran, China). Der Zulauf dieser Rüstungsgüter und auch der Reservisten ist klar an der Front erkennbar. Im Moment kann man davon ausgehen, dass Russland ca. 400.000 Soldaten im Einsatz hat. Das Doppelte wie im Februar 2022.

Russland versucht mit diesen Soldaten, die ukrainischen Streitkräfte abzunützen. Es kann, muss dazu aber nicht notwendigerweise in eine weiträumige neue Offensive gehen. Es gibt jedoch klare Indikatoren dafür, dass Russland seit Anfang Februar damit begonnen hat, an mehreren Abschnitten entlang der Front Druck auszuüben und in die Offensive zu gehen. Es kommt dabei vor allem zu massiven Artillerieangriffen und Vorstößen von Kompanie- und Bataillons-Kampfgruppen.

Zusätzlich versucht Russland gezielt, die im Westen vorhandene Unsicherheit und Anti-Kriegsstimmung zu verstärken bzw. die eigene Bevölkerung zum Durchhalten zu motivieren. Die von Putin am 21. Februar vorgetragene Rede enthielt hier entsprechende Narrative. Der eigenen Bevölkerung wurde vermittelt, dass Russland gezwungen sei, einen „Überlebenskampf“ zu führen, während dem Westen neuerlich indirekt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht wurde.

4: Ist ein Weg zum Frieden denkbar?

Das Fatale an einem Abnützungskrieg ist, dass er sich über lange Zeit hinziehen kann. Er wird oft nicht an der Front entschieden, sondern im Hinterland oder durch den Umfang der Unterstützung durch Dritte. Erst wenn eine Seite völlig abgenützt und demoralisiert ist, gelingt es der anderen, in die entscheidende Offensive zu gehen. Beispiele dafür finden sich viele in der Kriegsgeschichte. Oft haben diese historischen Beispiele auch gemeinsam, dass versucht wird, im Hintergrund durch Verhandlungen auszuloten, wie ein möglicher Waffenstillstand oder Friedensschluss aussehen könnte.

Solange von beiden Seiten die Maximalforderung der Kapitulation des jeweils anderen als strategisches Endziel besteht, dient die Diplomatie nur einem gegenseitigen „Abtasten“, während die jeweiligen Streitkräfte versuchen, durch einen immer neuen Reserven-Einsatz eine Entscheidung am Schlachtfeld zu erzielen. Solange, bis das gewünschte Ziel erreicht ist, keine Reserven mehr verfügbar sind, oder die Bevölkerung nicht mehr bereit ist, das Elend und die Verluste des Krieges zu ertragen. Die Verluste des Krieges sind bereits hoch, jedoch ist auf beiden Seiten noch nicht die Grenze des Erträglichen erreicht.

Die Ukraine möchte ihr gesamtes Territorium wieder in Besitz nehmen und Russland ist nicht bereit, eine eigene Niederlage oder gar Kapitulation zu akzeptieren. Die russische Propaganda bedient sich historischer Narrative („Großer Vaterländischer Krieg 2.0“), einfacher Erklärungsmodelle („Alle gegen Russland“) und appelliert an den eigenen Nationalismus („Überlebenskampf Russlands“). Die Ukraine versucht hingegen vor allem, die westliche Unterstützung aufrechtzuerhalten und zeigt die Folgen eines möglichen Versagens auf („Der Kampf der Ukraine dient der Verteidigung Europas und dem Stopp der russischen Expansion!“).

5: Wie sollte der Westen nun handeln?

Es gibt für die zur Unterstützung der Ukraine solidarisch versammelten Länder des Westens, möchte man den Krieg rasch beenden, nur zwei Optionen. Beide Ansätze werden im Kern von zwei grundsätzlich unterschiedlich argumentierenden Lagern und deren entsprechenden Unterstützern vorgetragen. Diese Lagerbildung ist in den Ländern Europas, deren politischen Führungen und auch im Stimmungsbild der Bevölkerungen erkennbar. Sie ist auch stark von der Sorge um die massiven Folgen eines Wirtschaftskrieges oder einem möglichen Ressourcenmangel geprägt.

Die erste Option ist die massive weitere Unterstützung der Ukraine. Mit allen Ressourcen, die dazu notwendig sind, um einen Abnützungskrieg dieser Form gewinnen zu können und zudem weit über das hinaus, was man bis jetzt getan hat. Dazu zählen vor allem die Lieferung von Mitteln der Land- und Luftkriegsführung wie Panzer, Kampfschützenpanzer, Kampfflugzeuge, bewaffnete Drohnen und weitreichende Boden-Boden-Raketen. Ziel ist die Zurückdrängung Russlands aus dem von ihm in der Ukraine besetzten Gebieten.

Sollte der Westen diese massive Unterstützung der Ukraine als zu risikoreich erachten, keine Einigkeit im Handeln bestehen, oder man unter Umständen dazu aufgrund mangelnder Ressourcen nicht in der Lage sein, so steht die Überlegung im Raum, in einer zweiten Option Russland einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem jetzigen Kriegsverlauf zu ermöglichen. Auch gegen den Willen der Ukraine. Dieses Vorgehen kann ein Einfrieren des Konflikts entlang der derzeitigen Fronlinien bedeuten und setzt voraus, dass Russland dazu bereit ist bzw. die Ukraine dies zulässt. Dies käme einer Niederlage des Westens gleich.

Welche der beiden Optionen schließlich zur Anwendung kommt, wird von der Bereitschaft des Westens (und hier vor allem der USA) und seiner Bevölkerungen abhängen, die Ukraine weiter zu unterstützen. Die größte Bedrohung ist, dass ein eindeutiger Sieg Russlands dazu führen könnte, dass es selbst – aber auch China – in den nächsten Jahren ermutigt werden könnte, weitere eskalierende Schritte zu setzen. Ein Sieg Russlands würde zudem zu großem Druck innerhalb Europas führen. Die Staaten im Osten, welche sich durch Russland bedroht fühlen, werden mit Vehemenz massive Unterstützung (vor allem durch die Lieferung von Rüstungsgütern und die Errichtung von Basen) von den westlichen und zentraleuropäischen Staaten einfordern.

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