Einmal entführt werden? Wiebke Köhler ist eine Top-Managementberaterin und sie hat die Erfahrung gemacht. Hier ihr Bericht von „etwas völlig Abgefahrenem“, einem speziellen Training, das in extremste Situationen führt: Vor kurzem war ich auf einem HEAT-Kurs, durchgeführt von der H.E.A.T. Akademie in Mosbach, Baden-Württemberg. HEAT steht für Hostile Environment Awareness Training. Der Name hält, was er verspricht.

Stressresistenz exponentiell

Bei den Kursen, die in Mosbach abgehalten werden, geht es um das Meistern oder einfach nur ums Überleben von Schock-Ereignissen in einem Hochrisiko-Umfeld. Nein, das ist keine metaphorische Umschreibung eines ganz normalen Arbeitstages im Management – obwohl das Training auch dafür überragende Resilienz verleiht – sondern ist schlicht wörtlich gemeint. So ein Schock-Ereignis kann im zivilen Leben eine Massenkarambolage auf der Autobahn sein, ein Brand in einem Hotel, ein Messer-Anschlag in einer Fußgängerzone, eine Explosion eines LKWs.

Wie gesagt: Wer ein HEAT-Training hinter sich hat, meistert solche Katastrophen souveräner und überlebt – eben gut vorbereitet. Das ist der Transfer des Trainings in den Alltag. Doch das ist lediglich eine willkommene Nebenwirkung. Denn eigentlich ist das Training für etwas ganz anderes gedacht.

Hochrisiko-Umfeld

HEAT-Kurse werden vor allem von Auslandsjournalisten besucht, die in unsichere Länder entsandt werden, von Lehrern, bevor sie an deutschen Schulen im Ausland unterrichten werden, von staatlichen Organisationen und Behörden sowie privatwirtschaftlichen Unternehmen. Denn in den Ländern, in die sie entsandt werden, kann man zum Beispiel bei einer Autopanne nicht einfach den ADAC rufen. Denn erstens gibt es dort keinen ADAC und zweitens würde er auch nicht ausrücken, wenn dem Pannenfahrer drohen würde, entführt zu werden.

So ein Training ist HEAT. Es bereitet einen auf das Schlimmste vor, dem man in bestimmten Ländern begegnen könnte. Es zeigt nicht, wie man sich in zugespitzten Krisen- oder gar Kriegslagen verhalten sollte, denn es ist kein militärisches Training. Aber es sensibilisiert jeden Zivilisten für feindselige Umgebungen. Dabei zeigt es einem, wie man sich so sicher und vor allem so souverän wie möglich auch in instabilen Ländern mit hohem Sicherheitsrisiko bewegt, zum Beispiel in Ländern wie Afghanistan, Irak oder dem Westjordanland.

Wir beklagen Stau auf der Straße, andere haben Minen

Deshalb umfasst HEAT auch den Umgang unter anderem mit möglicher Minen-Gefahr, das sichere Passieren von legalen und illegalen Checkpoints mit Milizen, denen möglicherweise der Finger am Abzug juckt, sowie die Möglichkeit, dass man auf offener Straße plötzlich in die Mündung eines Gewehrs blickt und überfallen oder als Geisel genommen wird.

Durch eine zunehmend unsichere Umwelt sind solche Kurse aber auch empfehlenswert für uns hier in Deutschland, wenn man sich gegen Unvorhergesehenes wappnen möchte oder von Berufs wegen muss. Dazu zählen einerseits Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte und andererseits auch jeder einzelne, ob Führungskraft oder Mitarbeiter, der den Umgang mit schwierigen Situationen hierzulande oder in anderen Ländern besser meistern möchte. Wollen wir das nicht alle?

Konkret werden in den Trainings vor allem Teambuilding, Führungsverhalten in hochdynamischen und kritischen Lagen sowie sicheres Entscheiden unter Unsicherheit trainiert. Wer HEAT kann, kann Krise. Wer in der Hitze einer HEAT-Simulation kühlen Kopf bewahrt, gute und schnelle Entscheidungen trifft und sein Team zielstrebig führt, ist danach „King of the Hill“ in jeder anderen brenzligen Situation. Gleichzeitig findet HEAT, obwohl das paradox klingt, unter maximal sicheren Bedingungen statt.

Das Trainer-Team besteht aus ehemaligen SEK-Polizisten und Kommandosoldaten vom Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr sowie ehemaligen Kampfschwimmern, die wissen, was sie tun, weil sie es selbst erlebt und gemeistert haben. Zugleich wissen sie, was sie ihren Teilnehmern zumuten können und erinnern während jedes Szenarios immer wieder daran, dass es ein Safe Word gibt: „EXIT“. Dann ist man raus aus der Übung – wenn es für einen einfach nicht mehr geht. Außerdem begleiten ein Sanitäter und ein Psychologe jeden Kurs, sowohl in der Theorie wie auch in den zahlreichen hoch realistischen Szenarien, von denen wir gleich einige erleben werden.

Die Routine ist dabei immer dieselbe: Bevor es in die einzelnen Szenarien geht, wird erst die Theorie auf informative und unterhaltsame Weise vermittelt. Man weiß danach, was man wissen muss, um zu überleben und in einer gefährlichen Situation keinen dummen Zug zu tun. Das ist kein theoretisches Wissen. Die Trainer greifen dabei auf ihre langjährige Erfahrung in Krisenländern zurück. Sie wissen nicht nur, was die besten Verhaltensweisen sind, sie haben sie hundertfach selbst getestet und erlebt. Das Motto dieses Trainings ist aber eindeutig „kein militärisches Training“, „kein Spitzensport“ und „keine Kriegsszenarien“, da hier Zivilisten auf Krisensituationen vorbereitet werden sollen und keine Soldaten auf einen militärischen Einsatz.

Souverän führen

In einer Krise souverän zu führen, ist nicht so unmöglich, wie sich das Menschen ausmalen mögen, die in akuten Krisen leicht in Panik, in Entscheidungsnot oder Decision Fatigue geraten. Auch und gerade in einer akuten Krise gilt: Struktur rettet. Deshalb geht es in den HEAT-Szenarien immer darum:

  • Wer führt und entscheidet?
  • Wer macht was?
  • Wer kümmert sich zum Beispiel um Erste Hilfe?

Daneben gibt es immer auch Teammitglieder, welche die Gruppe nach vorne und hinten absichern. Immerhin bewegt man sich auf einem Gelände, das gefährlich sein könnte, zum Beispiel nach einem Terroranschlag wie auf dem Berliner Breitscheidplatz, nach einem Unfall auf der Autobahn oder eben nachts auf einer ungesicherten Landstraße in der Wüste.

Jeder in der Gruppe erhält nacheinander jede Rolle und kann sich darin üben. Nach jedem mehr oder weniger gut überstandenen Szenario gibt es im Anschluss ein Feedback vom Trainerstab. Danach steigt die Gruppe mit neu verteilten Rollen erneut in das Szenario ein, das bei jedem neuen Durchgang um ein bis zwei Nuancen variiert oder gesteigert wird und so immer wieder aufs Neue fordert. Dadurch üben die Gruppenmitglieder nicht nur die verschiedenen Rollen, sondern können das Feedback aus dem vorangegangenen Durchgang beim nächsten Durchlauf gleich umsetzen und so ihr Verhalten verbessern. So wird man krisenfest. Durch wiederholtes Üben und eben nicht durch Krisen-Konzepte in der Schublade, wie schon die Römer wussten: Repetitio est mater studiorum. Wiederholung, nicht konzeptionelles Wissen, ist die Mutter aller Fähigkeiten.

Das Gelände der ehemaligen Kaserne in Mosbach ist für solche Szenarien ideal: Ein großes Areal, sehr weitläufig, mit ausgemusterten oder bereits halb abgerissenen Gebäuden und vielen Straßen, Gebüschen, Waldstücken und überall Lautsprecher, welche die passende Geräuschkulisse einspielen.

Der erste Tag

Auch die Basics werden aufgefrischt, zum Beispiel die Kenntnisse in Erster Hilfe. Unser Rettungssanitäter zeigt: Was mache ich, wenn jemand bewusstlos ist, aber atmet? Antwort: stabile Seitenlage. Und wenn der Verletzte nicht mehr atmet? Herz-Lungen-Massage. Wie geht die noch gleich? Mein letzter Erste-Hilfe-Kurs war damals beim Führerschein – gut dreißig Jahre her. Wir lernen auch, wie man ein Tourniquet anlegt. Das ist ein Druckverband, der die Blutzufuhr unterbindet und bei stark blutenden Wunden an Armen und Beinen angelegt wird.

Auch lerne ich in verschiedenen Übungen, wie man ein Auto abschleppt und wechsle das erste Mal in meinem Leben einen Autoreifen – und dann gleich ohne Wagenheber. Ein Baumstamm tut’s auch, kein Witz. Dem Erfindungsreichtum der Gruppe sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Daneben wird das Verhalten an Checkpoints in Ländern wie dem Irak, Afghanistan, Gaza usw. vermittelt. Worauf ist zu achten? Was gilt es zu vermeiden, wenn einem das eigene Leben lieb ist und man nicht kurzerhand gefangengenommen oder versehentlich erschossen werden möchte? Die Trainer zeigen uns, welches Verhalten angemessen ist. Das heißt zum Beispiel auch, wie man sich als Frau zu verhalten hat, wen man anspricht und wen besser nicht, welche Bewegungen zu vermeiden sind.

In anderen Krisengebieten sind Minen eine reale Gefahr. Auch hierzu gibt das Trainingsteam eine Einführung, zeigt verschiedene Formen von Minen und sensibilisiert, worauf zu achten ist. Denn selbst im Boden vergrabene Sprengsätze sind nicht so unsichtbar, wie der Laie meinen mag. So erscheint bei möglichen Sprengstoffanschlägen mit IEDs (Improvised Explosive Device) häufig am Straßenrand eine Art Symbol, zum Beispiel ein kleiner Steinberg, eine Radkappe oder ein Benzinkanister. Dieser wird von den Attentätern dort aufgestellt, als Zielmarkierung. Passiert ein Wagen dann die Markierung, erkennt der in sicherer Entfernung lauernde Attentäter recht zielgenau den exakten Zeitpunkt für die Fernzündung seiner Bombe, um maximale Wirkung zu erzielen. „Ein Steinmännchen am Straßenrand? Ach wie süß!“ ist in bestimmten Ländern nicht der richtige Gedanke – oder der letzte, bevor einem Steinmännchen und Auto um die Ohren fliegen. Wir werden daher sensibilisiert, schärfer auf unsere Umgebung zu achten, auch später im praktischen Szenario.

Der Psychologe im Trainerteam geht mit uns die in vielen Ländern ganz reale Möglichkeit eines Überfalls durch: Wie läuft sowas ab (Tipp: nicht wie im Hollywood-Schinken)? Wie sollte man sich verhalten, wenn man in Geiselhaft gerät? Welche Coping-Strategien (Bewältigungsmechanismen) für Hochstress-Situationen gibt es?

Es wird realitätsnah trainiert, nicht realistisch. Letzteres würde bedeuten, dass Menschen im Trainingsszenario real verletzt würden, Autos tatsächlich brennen und richtige Attentäter unterwegs wären. Das passiert natürlich nicht im Training! Doch die einzelnen Szenarios werden so dicht an der Realität nachgestellt, dass alle Teilnehmer immer wieder vergessen, dass es „nur“ ein Training ist.

Ich komme erst später zum Kurs, stoße am Dienstag dazu – Kursbeginn war am Montag. Die anderen Teilnehmer nehmen mich freundlich auf. Nach der ersten gemeinsamen Übung am Nachmittag bin ich voll integriert ins Team.

Eine unruhige Nacht

Am Vorabend zum Donnerstag weist uns der Trainer in die Lage des Szenarios ein, das wir am nächsten Morgen durchlaufen sollen.

Wir werden von einem Regierungsmitarbeiter eines fiktiven Landes am Flughafen in Empfang genommen. Er berichtet über die derzeitige, instabile Lage im Land und begleitet uns in ein Camp, das mit einem Zaun gesichert ist und von der lokalen Polizei bewacht wird.

Nach dem Briefing zur Lage gehen wir alle früh ins Bett. Zum einen sind wir vom überstandenen Trainingstag todmüde, zum anderen geht es früh los am nächsten Tag. Und: Ich erwarte, dass wir im angekündigten morgigen Szenario „überraschend“ überfallen werden. Immerhin hat uns der Psychologe instruiert, wie man sich ganz allgemein bei einem Überfall verhält. Das wird er nicht umsonst getan haben. Mit diesem wenig schlafförderlichen Gedanken schlafe ich nichts- destotrotz ein – um eine nicht alltägliche Nacht mit erheblicher Ruhestörung (mehr Details werden nicht verraten) zu erleben, die am nächsten Morgen zu einer Lageänderung führt.

Der nächste Morgen

In aller Frühe versammeln wir Teilnehmer uns in der Lobby. Der Regierungsmitarbeiter empfängt uns – das Briefing erfolgt „voll im Szenario“. Er ist in seiner Rolle absolut drin. Und wir auch.

Ob wir noch gut schlafen konnten nach den Vorfällen der letzten Nacht? Keiner reagiert darauf so richtig, wir sind doch alle ganz schön müde.

Der Regierungsmitarbeiter erklärt, dass die Vorfälle in der Nacht unseren eigentlichen Auftrag erschweren. Er erinnert uns daran, dass wir uns in einem „Hostile Environment“ befinden. Wir sollen erhöhte Sorgfalt an den Tag legen, um die Voraussetzungen für eine langfristige Zusam- menarbeit mit den lokalen Beteiligten zu schaffen.

Und: Wir sollen in einer Stunde startklar sein. Das sind wir dann auch, keiner trödelt, obwohl ich das hätte verstehen können. Wir regeln, wer nachher mit wem in welchem Auto fährt, sprechen die gesamte Organisation der Aufträge des Tages durch. Eine gute Vorbereitung ist die halbe Miete. Danach erst einmal: Frühstück.

Eine Stunde später verteilen wir uns auf die Fahrzeuge und fahren los. Realiter auf dem Gelände des Trainingszentrums, aber für den Moment voll in der Lage. Ich finde mich im Auto mit Michael, Christiane, Katharina und Florian wieder. Wir starten hochmotiviert, aber auch ein wenig beklommen. Was wohl auf uns zukommt? Eine Frage, die schneller beantwortet wird, als uns lieb ist.

Der Überfall

Denn schon kurz nachdem wir losgefahren sind, springt plötzlich eine orientalisch gekleidete Frau schreiend und wild fuchtelnd vors Auto. Die Frau gestikuliert in Panik in Richtung auf ein rauchendes Autowrack in einer Hofeinfahrt und schreit laut auf Englisch und Arabisch: „Hilfe! Hilfe! Mein Sohn brennt!“ Ich traue meinen Augen nicht: Da brennt tatsächlich eine Gestalt (natürlich eine Puppe). Wir überlegen nicht, sondern halten sofort an – was vielleicht nicht das Klügste ist, denn es könnte ein Hinterhalt sein. Doch da steht unsere Kolonne bereits.

Es brennt in der Hofeinfahrt lichterloh, wir sehen Verletzte. Alle aus unserer Gruppe steigen hektisch aus, wollen losrennen, helfen. Schon zieht die schreiende Frau ungeduldig an Florians Jacke. Da mir bei der Rollenverteilung die Führung zugewiesen wurde, sage ich erstmal „Stopp! Keiner rennt hier los. Florian, du gehst nach vorne und erkundest die Lage. Wir anderen bleiben erstmal beim Auto.“ Warum?

Weil wir das am Vortag bereits schmerzhaft gelernt hatten. Da sind wir nämlich in einem ähnlichen Szenario, hilfsbereit, wie wir Europäer in fremden Ländern nun mal sind, alle gleich losgerannt. Als wir vom Helfen zurückkamen, waren unsere Autos weg. Andere Länder, andere Sitten (es kann einem natürlich auch in Europa passieren, dass einem das Auto unterm Sitz weg geklaut wird).

Also bleiben wir diesmal beim Auto. Außer Florian. Florian geht ein Stück mit der verzweifelt schreienden Frau mit und schaut um die Ecke der Toreinfahrt. Er gab mir eine kurze Rückmeldung: mehrere Verletzte, brennende Fahrzeuge. Also entscheide ich, dass wir alle helfen gehen. Wir hatten jemanden eingeteilt, der sich im Schwerpunkt um die Erste Hilfe kümmern soll. Diese Person nimmt also ihr IFAK (Individual First Aid Kit) mit, einen anderen Kollegen teile ich als Wache am Auto ein.

Wir gehen alle auf die Hofeinfahrt mit dem brennenden Wrack zu. Kaum biege ich um die Ecke, knallt ein Schuss. Ich rufe noch „Deckung!“, da krachen weitere Schüsse. Es ist eines, wenn man das im TV sieht und hört. Etwas völlig anderes ist es, wenn man es selber ist, dem die Schüsse gelten. Hektik bricht aus. Ich schmeiße mich auf den Grünstreifen, sehe noch Katharina vor mir, die in den Büschen nach Deckung sucht, als ob Büsche kugelsicher seien. Wir kauern dicht überm Boden, machen uns klein, nehmen den Kopf runter.

So sehe ich kaum, was um mich herum passiert. Ich höre nur Schüsse, dann rennen Männer auf uns zu. Sie tragen schwarze Masken, man sieht nur die Augen. Ich sehe, dass sie ihre Gewehre auf uns richten. Das ist sicher nicht die örtliche Polizei. Prompt schreit mich einer der Angreifer an: „On the floor. Get down!“ Ich blicke in die Mündung seines Gewehrs. Ich weiß, das ist eine Attrappe, doch dieser Gedanke hat keinen Einfluss auf meinen Pulsschlag, der wie eine Rakete hochgeht.

Ich gehorche und mache mich noch kleiner. Dem Terroristen scheint das nicht zu reichen. Er geht drohend auf mich zu, nimmt mir das Funkgerät ab, mein Handy und den Rucksack. Drückt mich brüsk auf den Boden. Er zieht meine Hände hoch, zwingt mich, sie hinterm Kopf im Nacken zu verschränken. Ich fühle mich wehrlos, was zwar Ziel der Übung sein mag, aber nicht wirklich angenehm ist. Ich bekomme nicht mehr alles mit, was um mich herum passiert. Wie viele Angreifer sind das überhaupt? Wo sind die anderen meiner Gruppe? Ich habe keine Ahnung.

Katharina war doch eben noch direkt neben mir. Jetzt sehe ich sie nicht mehr. Also sage ich auf gut Glück: „Kata, alles okay bei dir?“ Keine Antwort. Stattdessen schreit mich der Maskierte an: „Shut up!“ In der Realität hätte er mich wohl getreten – das unterbleibt in dieser Übung.

Nun ist wohl allen klar, was das ist: das gefürchtete Überfall-Szenario. Obwohl ich vorher wusste, dass es kommen würde, und natürlich weiß, dass es eine Übung ist, rast das Herz und pumpt das Adrenalin. Die Achterbahn auf der Kirmes ist ein lauer Jux dagegen.

Ich hatte mich sehr auf dieses spezielle Szenario gefreut, als ich es im Programm las, stelle nun aber fest: Spaß ist anders. Ich bin doch ein wenig schockiert, dass hier meine persönlichen Grenzen deutlich überschritten werden. Ich bin einiges aus dem Konzernleben gewohnt – aber sowas nicht! Mich erbost insbesondere und seltsamerweise, dass der bewaffnete Kerl jetzt an meiner Jacke herumzerrt und kann nur denken: Wehe, du machst die kaputt! Das ist keine neue Jacke, aber eine, die ich gerne trage – und das ist ein absurder Gedanke in so einer Situation: Ich fürchte nicht um mein Leben, sondern um meine Jacke. Hinterher erklärt uns der Psychologe teils amüsiert, teils fachmännisch, dass wir genau deshalb solche Übungen machen: Damit wir selbst erleben, was unser Gehirn in solchen Hochstress-Lagen produziert und damit umgehen können, wenn es (hoffentlich nie!) passieren sollte. Keiner, der das nur aus der Theorie kennt, ist auf die Realität der eigenen Schock-Gedanken vorbereitet. So entstehen die klassischen Fehlentscheidungen unter Hochstress. Nicht, weil die Leute nicht entscheiden können, sondern weil sie Hochstress nie wirklich trainiert haben. Man kann sich noch so oft vornehmen „Ich bleibe cool!“ Wenn der Vorsatz nicht trainiert wird, zerstiebt er unter Hochstress schneller als die guten Vorsätze an Silvester. Drill saves lives!

Your Mind Is not Your Friend

Der Psychologe erklärt hinterher: „Unter Hochstress denken Sie nicht logisch. Unter Hochstress schalten sich Jahrtausende-alte Abwehrmechanismen ein, der evolutorische Autopilot.“ Manchmal induziert dieser Autopilot Todesangst, manchmal absurde Jacken-Gedanken. Mir tut inzwischen die Stirn weh, von dem Moment als ich auf den Boden gedrückt wurde. Aber das schmerzt weniger als das ungewohnte Gefühl, dass mir jemand „Gewalt“ antut – auch wenn man von Gewalt nicht sprechen kann und mir absolut klar ist, dass das Ganze eine Übung ist.

Dennoch spüre ich instinktiv, dass ich bei einem echten Überfall eine ganz andere, echte Gewalt erlebt hätte. Allein der Gedanke treibt mein Adrenalin noch weiter hoch, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich bin schockiert und überrascht und merke erstaunt, wie mir Tränen in die Augen steigen, die ich tapfer herunterschlucke. „Jetzt nicht heulen, Wiebke“, sage ich mir. „Ist bloß eine Übung. Krieg dich wieder ein. Die Jacke wird’s überleben, das Ego auch.“ Da zieht mich einer der Terroristen auf die Straße.

Der Trainingsleiter kommt hinzu und sagt, wie zu jedem: „Wiebke, das ist eine Übung. Sie ist nicht Realität, aber realitätsnah. Du kannst zu jedem Zeitpunkt aus der Übung aussteigen. Sag dafür einfach das Wort ‚EXIT‘ – dann nehmen wir dich sofort raus.“ Mir steckt ein Kloß im Hals, weshalb ich nichts sage, sondern einfach nur nicke.

Dennoch hilft mir die Ansage des Trainingsleiters. Ich versuche mich zu entspannen. Tief durchatmen! Ich komme runter, beginne mich etwas zu entspannen, da wird es schlagartig zappenduster. In der ersten Sekunde realisiere ich nicht, wie plötzlich jemand das Licht ausschalten konnte. Dann begreife ich: Jemand stülpt mir von hinten einen Sack über den Kopf. Von jetzt auf gleich sehe ich nichts mehr. Er hat das so schwungvoll gemacht, dass meine Haare ungeordnet vorm Gesicht liegen. Das ist wirklich der erste Gedanke, den ich fasse. „Scheiße, jetzt habe ich Haare vorm Gesicht. Ich atme durch meine eigenen Haare, kriege kaum noch Luft in dieser Sommerhitze – und es nervt total.“ Wie kam ich bloß auf den Gedanken, dass das alles Spaß machen würde? ++ Fortsetzung folgt ++

H.E.A.T. Akademie im Internet

WIEBKE KÖHLER

ist seit über zwanzig Jahren Top Management Strategieberaterin; auch ist sie Gründerin, Key Note Speakerin und mehrfache Buchautorin. Sie arbeitete während ihrer beruflichen Laufbahn in den Top Management Beratungen bei Roland Berger und McKinsey & Co. Als Partnerin im Executive Search begleitete sie internationale, globale Konzerne bei der Besetzung von Vorstandspositionen und bekleidete zuletzt die Position als Personalvorstand bei der AXA Konzern AG in Deutschland. Sie ist CEO der Top Management Beratung impactWunder und unterstützt Konzerne in strategischen Fragen des Marketings und im HR, vor allem rund um Kultur, Werte- und Machtwandel und bei der Führungskräfteentwicklung. Sie engagiert sich ehrenamtlich für eine bessere Vernetzung von Bundeswehr und ziviler Gesellschaft und hat dazu bisher zahlreiche Artikel und zwei Bücher („Führen im Grenzbereich“ und „Besuch bei der Truppe – Menschen in Uniform“) veröffentlicht.

WIEBKE KÖHLER im Internet

HEAT TRAINING auf SPARTANAT

– BEFREIT AUS GEISELHAFT (1): Entführung

– BEFREIT AUS GEISELHAFT (2): Gefangenschaft

– BEFREIT AUS GEISELHAFT (3): Befreiung